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Jehuda Amichai "Nicht von jetzt, nicht von hier"


Patricia, Joels Geliebte in Jerusalem, an Joel: "Warum fürchtest du dich, glücklich zu sein?" (S. 245)

 

In seinem einzigen Roman beschreibt der Lyriker Amichai - 1924 in Würzburg geboren und 2000 in Jerusalem gestorben - in autobiografischen Zügen die zwei Parallelwelten des Joel, der "nicht von jetzt" (Weinburg - Würzburger Erlebniswelt - Ich-Erzähler), aber auch "nicht von hier" (Jerusalemer Erlebniswelt - Erzählung in der dritten Person des Joel) ist.

 

In einer Was-wäre-wenn-Situation setzt sich einmal das Leben des Joel in Jerusalem fort, weil er sich entschließt zu bleiben, und im anderen entscheidet er sich, nach Weinburg zu reisen.

 

Joel steckt in der Gegenwart in Jerusalem in einer tiefen Sinn- und Identitätskrise, auch aufgrund seiner Vergangenheit und kehrt deshalb an die Orte seiner schönen, aber auch traumatischen Kindheit in der NS-Zeit nach Weinburg zurück.

 

Ich musste wieder und wieder an den großen Irrtum denken, in dem ich lebe, ein sich stetig wiederholender Irrtum, bis der Tod kommt und alle Irrtümer mit einem Handstreich berichtigt. (S. 362)

 

Jerusalem - das ist Dürre und Kargheit und Dorngestrüpp, das ist eine Stadt ohne Fluss, das ist "eine steinige, harte, salzbittere, staubbedeckte Wüste, in der [aber] Menschen wie Jeremia und Jesus von Nazareth gewandelt sind." (S. 362) In Jerusalem, da ist er Archäologe, da ist er Ehemann, Geliebter, Freund ... 

 

Weinburg dagegen sind rebenbewachsene Hänge am Main und verwinkelte Gassen, das ist eine warme Landschaft - aber da ist er Kind in Erinnerung und das ist erinnerte Kindheit. Weinburg - das sind noch Trümmer, das ist Konfrontation mit den Toten, den Ermordeten und mit den wenigen, die überlebt haben und deren Erinnerungen. 

 

Aber der Vorsatz, Rache zu üben, und vor allem im Namen seiner Jugendfreundin Ruth, die im KZ ermordet wurde, ist nicht so leicht umsetzbar. Je länger er sich in Weinburg aufhält und je mehr er sich erinnert, umso mehr vergisst er.

 

In einem Fenster sah ich Ruths Gesicht mir zugewandt, wie damals, als wie beide auf dem Boden lagen und Hitlerjungen mich festhielten, während ich hörte wie einer auf sie eintrat und ihre Beinprothese schreckliche Geräusche abgab, Knarren von Scharnieren, Schnallen und Leder ... doch wie ein ewiges Licht begann auch ihr Gesicht mich zu beruhigen, mich mit Musik und Glück und Trauer zu erfüllen, statt zur Rachetaten zu drängen. (S. 133)

 

Trifft der Ich-Erzähler in Weinburg auf Melvin, einen amerikanischen Regisseur, entpuppt sich dieser im Fortgang der Handlung als Ehemann von Patricia, der Geliebten Joels im parallelen Handlungsstrang. In Weinburg bleibt Patricia für ihn lediglich das Bild einer Frau aus einem Schaukasten in Jerusalem, der er noch einmal flüchtig auf seiner Rückkehr von Weinburg nach Jerusalem begegnet. Patricia ist da wiederum auf dem Weg, um die Scheidung mit ihrem Ehemann Melvin in Amerika zu regeln.

 

Um diese Verwobenheit von Vergangenheit und Gegenwart geht es elementar in Amichai's Roman, auch darum, dass, bei allen Versuchen, Vergangenheit zu verdrängen, diese immer wieder auftaucht und dass sich jeder dieser irgendwann stellen muss, um sich schlussendlich nicht mehr fürchten zu müssen, im Hier und Jetzt glücklich zu sein. 

Auch wenn ich mich anfangs schwertat, hineinzufinden, ist das Erzählte auch sprachlich ein Genuss - besonders auch in der Liebesgeschichte zwischen Patricia und Joel.

 

Schade, dass Amichai nur einen Roman geschrieben hat und schade, dass er nach seinen Nominierungen nicht als Literaturnobelpreisträger in die Geschichte eingegangen ist. 

 

Deshalb Leseempfehlung:

 

Jehuda Amichai "Nicht von jetzt, nicht von hier" Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2017, ISBN 978-38260-6187-5


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