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Zoe Hagen "Tage mit Leuchtkäfern"


Zoe Hagen "Tage mit Leuchtkäfern"
Wegweiser als Bild für Orientierungslosigkeit

Vorneweg

 

Ich hasse und ich liebe.

Warum, fragst du vielleicht.

Ich weiß es nicht.

Aber ich fühl's, und es foltert mich. 

(Catullus)

 

Inhalt

Die 1994 geborene Poetry Slammerin Zoe Hagen hat mit gerade einmal 17 Jahren dieses Buch veröffentlicht. In "Tage mit Leuchtkäfern" verarbeitet sie autobiografisch ihre Erfahrungen im Umgang mit ihrer Mutter, ihrer Familie, ihren Altersgenossen in Schule und Freizeit sowie mit ihrer eigenen Essstörung. Die Autorin lässt die Hauptfigur als 15jährige Briefe in Tagebuch- und Ich-Form an Gott schreiben, obwohl sie sich nicht sicher ist, dass es diesen gibt.

 

Sie gerät in einen Freundeskreis, der sich "Club der verhinderten Selbstmörder" nennt, sie aber auffängt und versteht, weil die, die dazu gehören, selbst alle irgendwie missverstanden und "geschädigt" sind (und "geschädigt" verwende ich nur, weil mir kein anderes Wort dafür eingefallen ist, wer ist schon "geschädigt" und wer "normal"?). Das sind Amira, die in ihrer Kindheit missbraucht wurde, Fred und Lynn, die ihre Liebe nur platonisch leben können, Noah, der melancholische Poet und Philosoph, Fabien, der Franzose und dann … Antonia, die Ich-Erzählerin.

Meine Kritik

Beklemmend für mich als Mutter, dieses Buch zu lesen. Ich habe Kinder, alle noch irgendwie in einem ähnlichen Alter wie die Club-Mitglieder. Natürlich ist es ein Jugendbuch, aber für jede Mutter und jeden Vater unbedingt empfehlenswert zu lesen.

 

Es hat über hundert Seiten (von insgesamt nur 185) gebraucht, bis die Geschichte mich "am Haken" hatte. Bis dahin habe ich nicht richtig verstanden, was eigentlich alles los ist mit Antonia und ihren Freunden. Bis dahin lässt die Autorin vieles, was die Jugendlichen bewegt, im Diffusen.

 

Bis zum Tagebucheintrag vom 09. Februar, aus dem obiges Zitat von Catullus, einem römischen Dichter, stammt.

 

Der Streit der Gefühle zwischen Liebe und Hass - Antonias Gefühlschaos gegenüber ihrer Mutter: Sie liebt ihre Mutter, sie hasst sie aber gleichzeitig (und dieses Gefühl ist momentan für sie viel stärker) - für ihr Unverständnis, für ihre Hilflosigkeit, für ihre Tatenlosigkeit, für ihr Nicht-zur-Seite-Stehen, für ihr ständiges Vorwürfe-Machen - was sogar so weit geht, sie zum Auszug bewegen zu wollen, weil sie angeblich die Familie kaputt mache. Aber vor allem die extreme Unsicherheit über die Liebe ihrer Mutter zu ihrer Tochter: Sie spürt die Liebe der Mutter nicht.

 

Höhe- und Wendepunkt zweifellos der Tagebucheintrag vom 11. Februar, in dem sie beschreibt, wie sie Essen maßlos in sich reinstopft, um dann alles - und mehr als alles - wieder aus sich raus zu kotzen und die Kloschüssel gar als Gott in "weiß und kalt und aus Porzellan" (S. 340) in ihrer ganzen Kotzerei fast anbetet, wie pikant in einem Brief, der selbst an Gott gerichtet sein soll.

 

Danach viele liebevolle und traurige Sequenzen, in denen es Zoe Hagen dann noch endlich gelingt zu berühren und noch viel aus der Geschichte rauszuholen (darunter auch ein paar Tränchen meinerseits).

 

Spät erst schwenke ich von drei auf vier Miezen um, ohne dass ich Euch noch etwas vom Fortgang der Geschichte nach dem 11. Februar verrate. Lest selbst!

Zoe Hagen, Tage mit Leuchtkäfern, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016, 1. Auflage März 2016, 385 Seiten, ISBN 978-3-548-28694-5


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