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Takis Würger "Stella"


Leseanlass

war eine kurze Kritik im Stern vom 17.01.2019 von Michael Stoessinger, wodurch mir Titel und Cover in der Zellinger Bücherei durch ein separat ausgestelltes Exemplar bekannt vorkamen und mich zur Ausleihe bewegten.


Inhalt

1942 beschließt ein 20jähriger Schweizer aus überdurchschnittlich begüterten, aber kaputten Familienverhältnissen (Vater ist Unternehmer und Handlungsreisender, Mutter trinkt, ist verhinderte Malerin und schlägt ihren Sohn), nach Berlin zu reisen, um sich (als Vorwand gegenüber seiner Mutter) in einer dortigen Zeichenschule einzuschreiben, aber um vor allem auch den Gerüchten über das dortige Scheunenviertel (damit dem Abtransport der Juden) nachzugehen.

 

Er lernt eine gleichaltrige Frau, die sich zunächst Kristin nennt, kennen und lieben, von der er spät ihre wahre Identität und erst recht sehr spät deren Wirken erfährt. Diese fiktive Liebesgeschichte schreibt Takis Würger basierend auf der wahren Lebensgeschichte der Jüdin Stella Goldschlag, die zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges mit den Nazis kollaborierte - sie verriet untergetauchte Juden, um damit das Leben ihrer Eltern, ihres Mannes und ihr eigenes zu retten.


Meine Kritik

Ich war keine dreißig Seiten mehr vom Ende des Buches entfernt und stöberte ein wenig im Internet über Takis Würger selbst und die allgemeine Aufnahme von "Stella" in den Kritiken. Ich musste feststellen, dass aktuell und auch sehr hitzig über das Buch debattiert wird. Große deutsche Tageszeitungen verreißen unisono Takis Würgers zweiten Roman... Darf man ein Buch über diese Zeit und über eine solche Figur so schreiben?

 

Es ist schwer, sich nach dem Lesen dieser Fülle an (professionellen) Kritiken zu positionieren, aber muss ich ja nicht, will ich auch nicht - ich will aber versuchen zu rekapitulieren, wie ich das Buch bis dahin aufgenommen hatte. Geht das noch? Ich weiß nicht, aber:

 

Auffällig ist die Struktur des Romans: Nach der Einführung des Protagonisten über 35 Seiten geht die Romanhandlung über in das Jahr 1942, kapitelweise, Monat für Monat, von Januar bis Dezember, baut Würger seinen Roman wie folgt auf:

  • aktuelle Fakten des jeweiligen Monats (Geburtstage prominenter Persönlichkeiten, z. B. Alice Schwarzer oder Wolfgang Schäuble, die zehn Gebote des Joseph Goebbels, Fakten zur Versorgungslage der deutschen Bevölkerung, Kriegsnachrichten etc.),
  • Zitate aus den Gerichtsakten aus dem Prozess gegen Stella Goldschlag nach Kriegsende: Deportationsfälle, die zu ihren Lasten gehen und
  • dazwischen erzählt die fiktive Geschichte Kristin/Stella - Friedrich

Die Geschichte wird zwar aus der Sicht einer fiktiven Person, des Friedrich, erzählt und die von ihm erzählte (Liebes)geschichte ist fiktiv, aber Teil dieser fiktiven Geschichte ist die wahre Geschichte der Stella Goldschlag. Damit wird diese monströse Zeit heruntergebrochen auf ein sehr spezielles Schicksal, nämlich auf das einer jüdischen Kollaborateurin. Viel erfährt man allerdings nicht über Stellas Wirken und sie selbst, denn einen Perspektivwechsel verweigert uns der Schriftsteller durch die Wahl der Ich-Perspektive. So sehen wir sie tatsächlich nur aus den Augen eines Naivlings wie Friedrich, der sowieso alles nur schwarz-weiß und nicht mehr farbig sieht, seit einer "Auseinandersetzung" mit einem Kutscher und der daraus resultierenden Gesichtsverletzung in Kindertagen.

 

Aber dieses Schwarz-Weiß gibt es nicht, und unserem "Helden" fällt es schwer, die Grauschattierungen wahrzunehmen, und Würger, diese Grauschattierungen darzustellen. Vielleicht ist es ja auch Absicht, eine Art Anti-Spiegelung: der ahnungslose Friedrich versus die wissende Stella, einer, der nichts weiß und auch nicht wirklich hingucken will, und die andere, die alles weiß, aber nichts erzählen will und kann. Aber gerade da hinkt die Geschichte: Und so erleben wir dieses merkwürdige, ungleiche Paar nur aus den Augen des Friedrich, der sich kindlich-ahnungslos in diese Beziehung begibt. Friedrich, der dennoch alles materiell Lebenswerte bieten kann - Luxuswohnen, Luxusessen, Luxustrinken, der seiner Freundin Pervitin schenkt und Opernkarten und rückwirkend alles bekommt, was das naive Herz (und der Kitsch) begehrt. Mehr nicht und nicht weniger als überzeichnet das pralle Lebensgefühl in Zeiten, da angesichts der Umstände dieses pralle Leben nicht hingehören sollte. Aber gerade deswegen so überzogen gelebt wird.

 

Relativiert wird dies durch scheinbar beliebig hingeworfene Nachrichten des Jahres 1942 und kommentarlos eingebaute Berichte aus den Gerichtsakten des Nachkriegsprozesses gegen Stella Goldschlag.

 

So bleibt die Geschichte einschichtig und flach - aber lesenswert schon.

Takis Würger, Stella, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, 1. Auflage 2019, 218 Seiten, ISBN 978-3-446-25993-5


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