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Robert Seethaler "Ein ganzes Leben"


Leseanlass

Eine ganze Reihe anderer Bücher sind dazwischen gekommen, bis ich nach „Das Feld“ ein zweites Buch von Robert Seethaler lesen wollte. Nun also „Ein ganzes Leben“, verfügbar in der Bücherei Zellingen.


Inhalt

Andreas Eggers Leben setzt in diesem Buch mit ca. vier Jahren ein, als er kurz nach der 1900er Jahrhundertwende in das Bergdorf im Tal zu seinem unbarmherzigen, ihn ausnutzenden Onkel gebracht wird. Zeit seines Lebens wird er ein – sympathischer – Sonderling bleiben, und trotz und obwohl er – außer um in den Krieg zu ziehen – nie sein Bergdorf verlassen wird, bietet es ihm in aller Bescheidenheit alles, was Ein ganzes Leben an Glück und Unglück ausmacht.


Meine Rezension

Ich muss zugeben, mich faszinieren Geschichten, die in den Bergen spielen, ob als Buch oder als Film. Es ist für mich schwer, mich diesem Sog an gegensätzlichen Bildern – auch in live - zu entziehen: hohe Berge und enge Täler, Anstiege, Ausblicke und Abstiege, Kühe, Schafe, Ziegen, die auf Bergweiden grasen, Almhütten, die man nach mehr oder weniger anstrengenden Wanderungen erreicht und wo man sich niederlässt für ein frisch gezapftes Bier oder eine kühle Buttermilch, unten im Tal Sonne und weiter oben Wolken, die bis in die Berge reinhängen oder gar die Sicht vernebeln, das „In-der-Natur-Sein“ und das alles nach Möglichkeit mit so wenigen Menschen wie nur möglich.

  

So ist es nicht verwunderlich, dass Robert Seethaler „mich sofort hatte“ mit seiner Geschichte um Andreas Egger, der eingangs des Buches im Jahr 1933 den sterbenden Hörnerhannes von seiner Hütte runter ins Tal trägt, huckepack, bei dichtem Nebel und teils hüfthohem Schnee:

  

„Stirb mir jetzt bloß nicht weg“, sagte er laut vor sich hin, ohne eine Antwort zu erwarten. Doch nachdem er fast eine halbe Stunde hinter sich gebracht hatte, immer nur das eigene Keuchen in den Ohren, kam die Antwort von hinten: „Sterben wäre nicht das Schlechteste.“ – „Aber nicht auf meinem Buckel!“, sagte Egger und hielt an, um die Lederriemen auf den Schultern zurechtzurücken. Für einen Augenblick horchte er in den lautlos fallenden Schnee hinaus. Die Stille war vollkommen. Es war das Schweigen der Berge, das er so gut kannte und das doch immer noch imstande war, sein Herz mit Angst zu füllen. „Auf meinem Buckel nicht“, wiederholte er und ging weiter […] „Bist du jetzt tot?“, fragte er. „Nein, du hinkender Teufel!“, kam es mit überraschender Deutlichkeit zurück. „Ich mein ja nur. Bis ins Dorf musst du es noch aushalten. Dann kannst du machen, was du willst.“ (S. 8/9)

  

Das gelingt Seethaler in seiner Geschichte immer wieder, wie hier in dieser oben zitierten: aus Lebens- und selbst Sterbenssituationen das Paradoxe zu entlocken. Zu beschreiben, wie nah diese Gegensätze im Leben beieinander liegen können und besonders in den Bergen. Ein weiteres Beispiel S. 64: Gerade noch sitzt Andreas Egger mit seiner Frau Marie vor seiner Hütte bei Sonnenuntergang, sie versucht ihm zu sagen, dass sie schwanger ist: „Es wird etwas wachsen. Und es wird etwas ganz Wunderbares sein“, sagte sie. Und ohne begriffen zu haben, was Marie ihm da gesagt hat, wird Egger dieses doppelt Wunderbare in Personalunion in der nächsten Nacht von einer Schneelawine entrissen ---

  

Der Schroffheit des Lebens in den Bergen setzt Seethaler eine gewisse Portion Kitsch entgegen, und des braucht’s vielleicht auch, um manche Dinge, die Egger widerfahren, ertragbar zu machen. Bei allem Irrsinn in seinem Leben erträgt er, nimmt er hin und ist indes – bei so viel Kargheit und Einsamkeit – zum Ende seines Lebens dennoch zufrieden. In einem letzten Anflug von Sehnsucht nach der Fremde setzt er sich ein halbes Jahr vor seinem Tod in den nächstbesten Bus, um an der Endstation verwirrt festzustellen, dass ihm nichts lieber ist und er nirgendwo anders sein und sterben will als in diesem Bergdorf.

  

Seethaler benutzt eine klare, damit den Schauplätzen und dem Protagonisten angemessene Sprache – und wie auch bei „Das Feld“ oder auch bei anderen Autoren wie Angelika Klüssendorf liebe ich dieses Schnörkellose!

 

Robert Seethaler, Ein ganzes Leben, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München, 2014, 155 Seiten, ISBN 978-3-446-24645-4


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