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Birgit Birnbacher "Ich an meiner Seite"


Erstmals aufgefallen ist mir „Ich an meiner Seite“ auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 – seitdem stand der Roman von Birgit Birnbacher, Salzburgerin und geboren 1985, sozusagen und quasi auf meiner Notizzettel-SUB-Liste.

Wie ein gutgemachtes Etikett zum Kauf einer Flasche Wein verführen kann, so hat mich der genial gewählte Titel zum Lesen animiert – ohne dass ich wie beim Kauf des Weines um den Inhalt wusste…


Worum geht es also?

„Ich an meiner Seite“: Das ist die Geschichte von Arthur. Der Roman setzt 2010 ein, Arthur ist gerade einmal 22 und wird nach sechsundzwanzig Monaten aus der Haft entlassen. 

 

Er trifft auf seinen Bewährungshelfer Börd (von engl. bird), bürgerlich: Konstantin Vogl. Als Betreuer und Mensch ist Börd ganz und gar unkonventionell, quasi ein schräger Vogel 😊 in Natura und nicht nur dem Namen nach. Mit ihm durchläuft Arthur das Starring-Prinzip: zehn Therapiesitzungen, vor denen Arthur zu vorgegebenen Themen auf Band schwarzsprechen soll. Im Laufe dieses Prozesses soll Arthur von sich selbst die „optimale Version“ finden, also sein besseres „Ich an seiner Seite“, auf die oder das er in brenzligen bzw. Konfliktsituationen zurückgreifen kann, um diese beherrschen zu lernen. Über diese Erzählaufträge gehen wir mit Arthur rückblickend seinen Weg bis in die Gegenwart.


Wiederspiegelnde Sätze...

Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite, Alte Mainbrücke Zellingen
Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite, Foto: J. Hebig

Birgit Birnbacher macht dem Leser keine eindeutige Lösung auf, die Geschichte eines Straffälligen kann so wie bei Arthur und könnte doch ganz anders erzählt sein.

 

Puzzleteil für Puzzleteil zusammenfügend und nach und nach aufzeigend entwickelt Birgit Birnbacher ohne jegliche Deutungen oder Kommentare das Gesamtbild von Arthur und dem, was eventuell entschied, dass er zum Häftling wurde. Sie überlässt es dem Leser, herauszufinden, woran es lag: 

  • Ist es der abwesende leibliche Vater, dessen einzige Leistung in Arthurs Leben die Namensgebung war?
  • Ist es die für die Kinder Arthur und Bruder Klaus unangekündigte, unverhoffte Auswanderung nach Spanien?
  • Ist es das Verschwinden des Bruders aus dem Leben der Familie, der den Umzug nie akzeptierte?
  • Ist es das Sich-Selbst-Überlassen des Kindes in einer so ganz und gar nicht kindgerechten Umgebung wie die eines Hospizes, mit meist älteren und todkranken Patienten vor Augen?
  • Ist es der Unfalltod der Freundin Milla, für den sich Arthur schuldig fühlt? 

Abseits dieser vielen Zäsuren in Arthurs knapp zwanzig Lebensjahren, bleiben zwei Sätze hängen, die seine Situation, seine Gefühlswelt, seinen Zustand für mich zentral beschreiben:

 

"Wir mochten einander, aber noch mehr wollten wir gemocht werden." (S. 108) und

"Dass es eine Potenz von Alleinsein gibt." (S.171)

 

Da ist der Mangel an spürbarer Liebe von Mutter Marianne, die in ihrem neuen Lebens- und Geschäftsmodell eines Edelhospizes auf- und worin Arthur verlorengeht. Und da ist zudem der Zustand des Alleinseins und Allein-Gelassenseins, an den sich Arthur schon fast gewöhnt hat, vor allem so deutlich werdend nach dem Tod seiner Freundin Milla und im Moment seiner Haftentlassung…

 

Es sind - traurig, aber dennoch auch tröstlich - Menschen außerhalb seiner Familie, die ihn auffangen, trotz des Mistes, den er gebaut hat und der zusätzlich heftigen Erfahrungen, die er noch in der Haft machen musste: Grazetta, eine ehemalige Schauspielerin und Bewohnerin des Hospizes, und Börd, der so andere Betreuer.

 

Und schließlich auch Arthur selbst, der zur Einsicht kommt, dass er dieses überhöhte und angestrebte Ich (an seiner Seite) aus der Therapie nicht braucht, sondern er sich selbst genügt und befreien kann und muss aus der verkorksten Lebenslinie. 

 

Bewegend und stellenweise sehr traurig machend. Aber dennoch mit ausreichend schlitzohriger Leichtigkeit und hoffnungsvoll erzählt.


Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite, Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., 3. Auflage Wien 2020, 268 Seiten, ISBN 978 3 552 05988 7

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