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Delphine de Vigan "Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin"


Nach „No & ich“, „Loyalitäten“ und „Dankbarkeiten“ nun endlich wieder ein Roman von Delphine de Vigan! „Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“ erschien bereits 2009 auf Französisch, ein Jahr später in der deutschen Übersetzung.

 

Darin greift de Vigan - wie ich finde - ein großes und immer noch oft verschwiegenes, immer noch weitestgehend unsichtbares Thema unserer Zeit auf: Erschöpfung. Für ihre zwei betroffenen Figuren ist sie verbunden mit dem Eruieren und Realisieren der Gründe und Wege, der Verdrängungen und des Vergessens, die zu diesem Zustand geführt haben. 

 

So mäandern in dem Roman unabhängig voneinander Mathilde, alleinerziehende dreifache Mutter, die den zehn Jahre zurückliegenden Unfalltod ihres Mannes scheinbar gut weggesteckt hat, und Thibault, Arzt im Bereitschaftsdienst, durch den Tag des 20. Mai und werden auf sich zurückgeworfen. 


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Delphine de Vigan "Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin"
Delphine de Vigan "Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin"

Wenn man vergisst, dass man verwundbar ist, dann fühlt man sich stark. Um zwei an und für sich starke und widerstandsfähige Persönlichkeiten geht es auch im Roman. Dass aber auch diese aus ihrer Stärke und ihrer scheinbaren Unverwundbarkeit gerissen werden können und dass dies nicht unbedingt ein unmittelbar erkennbarer Vorgang ist, sondern einer, der sich einschleichen kann, dass damit ein Verdrängungsprozess bis an die Grenzen des physisch und psychisch Ertragbaren, bis hin zur Erschöpfung, verbunden sein kann – das zeigt uns Delphine de Vigan in ihrem Roman auf.

 

Mathilde nämlich, die begreift, wie abhängig ihr beruflicher Status vom Wohlwollen ihres Chefs war, der sie nach Widerworten fallen lässt wie eine heiße Kartoffel und sie subtil und ganz und gar seine Machtposition ausnutzend sukzessive ins Abseits drängt. Die erfahren muss, wie sich fast alle im Team wegducken in Respekt vor dem Chef, wie sich das Schweigen ausbreitet, das Wegschauen, wie sie immer mehr an den Rand gedrängt wird. Und sie angesichts des schleichenden Vorgehens ohnmächtig und quasi nicht imstande ist, dem Geschehen ausreichend Gegenwehr entgegenzusetzen.

 

Und Thibault, aufgrund seines Alltags als Notarzt von einem Patienten zum anderen durch Paris geworfen, der sich durchringt, an diesem 20. Mai die von ihm emotional einseitig geführte Beziehung zu seiner Freundin zu beenden. Mit dieser beziehungstechnischen Einseitigkeit war für ihn auch eine Abhängigkeit verbunden und wie ein Mantra muss er deshalb, um durch diesen Tag zu kommen, ein „Ich habe es getan“ immer wieder vor sich herbeten, um damit  in seiner Entscheidung nicht schwach zu werden.

 

Mathilde und Thibault begegnen sich am Ende des Romans, ein Happy End wird es nicht sein, zu erschöpft sind sie, um eine wirkliche Begegnung stattfinden zu lassen: Er hatte das Gefühl, diese Frau und er hätten dieselbe Art Erschöpfung gemeinsam, eine Abwesenheit von sich selbst, die den Körper zu Boden drückt… (S. 251)

 

Ein wichtiger Roman, in dem es um berufliche wie private Abhängigkeiten und Manipulationen geht und wie schwierig es ist, sich aus diesen zu lösen. Delphine de Vigan beschreibt diese vielschichtig, benutzt dabei wie immer eine klare und schnörkellose Sprache und ist wie gewohnt angenehm nah an den Figuren.

  

Unbedingte Leseempfehlung! 


Delphine de Vigan, Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin, Aus dem Französischen von Doris Heinemann, Dumont Verlag, Köln Februar 2021, 252 Seiten, ISBN 978 3 8321 6545 1

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