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Steffen Mensching "Schermanns Augen"


Dies ist die Geschichte von Rafael Mauritzowitsch Schermann (1874 bis ca. 1943), der in seiner Profession als eine Art Psychographologe in den 1920er und 1930er Jahren eine europaweite Berühmtheit erlangte, eine, die sogar über den großen Ozean bis nach Amerika schwappte. 


Mein Fachgebiet ist der Mensch. (Rafael Schermann)

Rafael Schermann kannte über seine Tätigkeit quasi „Hinz und Kunz“ seiner Zeit: In diesen über 800 Seiten taucht eine lange, lange Liste von berühmten Namen und deren Lebensgeschichten auf wie u.a. Klaus Mann, Else Lasker-Schüler, Karl Kraus, Oskar Kokoschka, Leo Trotzki, Ernst Thälmann, Ernst Busch, Georg Trakl, Wilhelm Pieck, aber auch von weniger berühmten, aber deswegen nicht uninteressanteren Persönlichkeiten, die die psychologischen und „hellseherischen“ Fähigkeiten des Rafael Schermann in Anspruch nahmen und/oder ein Großteil von ihnen auch in die Geschichte und Geschicke der stalinistisch geführten Sowjetunion gerieten.

 

Das ist hoch interessant zu lesen, weil bis ins Detail genau recherchiert und – gelobt sei die moderne Zeit des Internet – ergänzbar beim Lesen durch Bilder und Daten, die das Handy mir zur Verfügung stellte… eine große weite Welt an Geschichten und Bildern und Informationen, in die man abtaucht und für die man sich Zeit lassen muss und für die ich mir eigentlich noch mehr hätte Zeit lassen müssen als den Lesemonat April, den ich dafür gebraucht habe 😊.   


Seine Klugheit setzt man am besten ein, indem man sich dumm stellt. (Rafael Schermann)

"Schermanns Augen", Figurenliste und Schermann selbst
"Schermanns Augen", Figurenliste und Schermann selbst

1939 setzt der Roman ein: dem 66jährigen, als „Greis“ eingeführten Rafael Schermann zur Seite stellt Steffen Mensching den (fiktiven) jungen deutschen Kommunisten Otto Haferkorn und lässt beide in einem russischen Gefangenenlager, und zwar in Artek, aufeinandertreffen.

 

Diese in vielen Geschichten angewandte und sich auch hier bewährende Hauptfigurenkonstellation aus Alt trifft auf Jung, aus Erfahrenheit trifft auf Jungsporn ergänzt Steffen Mensching bei der Person des Graphologen durch eine schelmenhafte, humorige Gelassenheit.

 

Diese braucht’s auch in diesem so harten und so ganz anderen Kosmos des russischen Gefangenenlagers, der geprägt ist durch eigene Hierarchien und durch lebenswidrige und irrsinnige Gesetzmäßigkeiten, die keiner verstehen muss und kann und will und die dennoch für so viele aus fadenscheinigen Gründen zur erzwungenen Lebenswelt wurden. 

Gründe, die Euch abhalten könnten vom Lesen, aber nicht sollten!

Ich habe "Schermanns Augen" als Roman ausgewählt, weil ich ein Faible für Steffen Menschings Gedichte und seine clownesken Auftritte in der DDR und rund um die Wendezeit zusammen mit Hans-Eckhardt Wenzel (mehr hier) hatte und habe.

 

Dies ist dennoch ein Roman, den ich mit sehr viel Respekt ob der über 800 Seiten und aufgrund des Themas Gulag begann. Den braucht es aber nicht, den braucht Ihr aber überhaupt nicht zu haben!

 

Natürlich sind die russischen Namen erst einmal gewöhnungsbedürftig. Natürlich: Mehrere Seiten erstrecken sich absatzlos und darin sind die Dialoge kaum erkennbar. Aber das, was Euch dafür Steffen Mensching – er hat sich für diesen Roman zwölf Jahre Zeit zum Recherchieren und Schreiben genommen - an Informationen und erzählerischem Können bietet, ist es hundertprozentig wert!  

 

Ein Roman, der viel, viel mehr Aufmerksamkeit verdient hat! LESEN! UNBEDINGT!  


Steffen Mensching, Schermanns Augen, Wallstein Verlag, Göttingen, 3. Auflage 2019, 820 Seiten, ISBN 978 3 8353 3338 3

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