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Lutz Seiler "Stern111"


Worum geht es?

Dies ist die Geschichte der Familie Bischoff aus Gera, die zwei Tage nach dem Mauerfall 1989 einsetzt. Scheinbar ungestüm und rabiat brechen Inge und Walter, Anfang 50, in den Westen auf. Sohn Carl, Mitte 20, soll Wohnung,  Garten und Shiguli hüten. Er fühlt sich als „verlassenes Kind", denkt nicht daran die Nachhut zu sein und macht sich im ‚heiligen‘ Shiguli auf nach Berlin. Dort wird er schließlich in die Gemeinschaft um „Hoffi", den Hirten, aufgenommen, die leerstehende Wohnungen bewohnbar macht und die erste Szenekneipe Ostberlins, die „Assel" gründet…


Mieze-Kritik zu Lutz Seiler "Stern111"

Lutz Seiler "Stern111"
Lutz Seiler "Stern111"

In zwei parallelen Erzählsträngen, Walters und Inges und dem Carls, begleitet Lutz Seiler seine drei Hauptprotagonisten in der Wendezeit. Mir ist es lange schwergefallen, in deren Geschichte Fuß zu fassen. Gehalten haben mich

  • schöne Sätze („Sie blickte ihn an, und für einen Moment hatte Carl die Vorstellung, in sie hineinzukriechen, in diese Frau aus Fell und Wolle, um für immer dort zu verschwinden.“ S.72)
  • die Neigung Seilers, vieles in Klammern zu erklären und zu relativieren (die ich teile 😏), wodurch das Erzählte eine leichte und oft humorige Note erhält und
  •  eine opulente Sprachgewandtheit, die mich ab etwa Seite 100 schließlich doch in die Leben der Bischoffs gesogen hat.

Gehalten hat mich insbesondere die Liebesgeschichte zwischen Effi und Carl (obwohl sie nie in echt „zusammen“ waren), das war zudem das Ringen Carls um seinen Weg in ein „poetischen Dasein“ und das waren die Einblicke in das Umfeld der Wohnungsbesetzungsszene und der Gründung der ersten Szenekneipe Ostberlins, die „Assel". 

>Bin stockfremd hier<, dachte Inge. >Bin gar nicht richtig da.< (S. 98)

Schließlich war es auch mein Mitfühlen aus der eigenen Lebensgeschichte heraus für das Irren und für das Suchen nach Orientierung, Halt und Gewissheit, die diese neue Freiheit und die anderen Möglichkeiten und das zum Teil gesetzesfreie Vakuum der Wendezeit boten, die mich mehr und mehr von der Geschichte überzeugten. Nicht zuletzt war es auch Carls Erkenntnis, dass Familie über alle getrennten Wege hinweg: bleibt!

 

Der Roman erhielt 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse. Zu Recht!!!

 

P.S. Das titelgebende „Stern111“ ist ein Transistorradio, made in GDR. Das Motiv des Sterns ist auch in anderen Varianten im Buch zu finden. 


Lutz Seiler, geboren 1963 in Gera, lebt in Wilhelmshorst und Stockholm. Für sein lyrisches, erzählerisches und essayistisches Werk, das in 25 Sprachen übersetzt ist, erhielt er zahlreiche Preise, u. a. den Deutschen Buchpreis 2014 für seinen Roman Kruso. (Umschlagtext)


Lutz Seiler, Stern111, Suhrkamp Verlag Berlin, Erste Auflage 2020, 522 Seiten, ISBN 978 3 518 42925 9

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