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Sabine Friedrich "Immerwahr"


Dies ist die Geschichte der Clara Immerwahr (1870 bis 1915).

 

Clara Immerwahr steht am Abend des 2. Mai im Jahre 1915 am Fenster der Haberschen Villa und sinniert über ihr Leben, über ihre verlorene Karriere, über die Entscheidung, was wäre, wenn sie nicht Fritz Haber geheiratet hätte, über Möglichkeiten als Frau, wäre sie hundert Jahre später geboren…

 

Eins vor allem: Clara Immerwahr war die erste Studentin an der Hochschule Breslau. Sie studierte Chemie und promovierte mit magna cum laude. Eine hervorragende Chemikerin war sie und hätte viel mehr werden können – sehnsuchts- und neidvoll denkt sie an das Ehepaar Curie, das wissenschaftliche Forschungen gemeinsam ausgelebt hat. Das ‚Höchstmögliche‘ ihrer Karriere hat sie jedoch mit 30 Jahren erreicht: Sie ist unbezahlte Laborassistentin ihres Doktorvaters Richard Abegg.

 

Dann: Mit der Heirat Fritz Habers zwängt sie sich in familiäre Pflichten und gesellschaftliche Erwartungen der damaligen Zeit, ihrem Mann den Rücken freizuhalten, den Haushalt und die Familie zu verwalten und ihre ganz persönlichen Wünsche und Träume hinter seine Karriere zu stellen. 


„Im Frieden für die Menschheit, im Krieg für das Vaterland! Ich bitte dich, Clara. Im Kriege dient ein jeder dem Vaterland,“ (S. 13)

Im Weiteren: Ist Fritz Habers Karriere steil. Mit Carl Bosch Entwickler des Haber-Bosch-Verfahrens, mit dem Stickstoff aus der Luft extrahiert, zur Produktion von Ammoniak und Salpetersäure verwendet und zur Basis von Kunstdünger wird. Unter der Aufsicht Fritz Habers wird es schließlich auch zur Herstellung von Giftgas und somit im 1. Weltkrieg eingesetzt. Fritzens obige Maxime steht im Widerspruch zu Claras pazifistischem Verständnis des wissenschaftlichen Arbeitens.

 

Im Besonderen: Leidet Clara unter der Dominanz Fritz Habers. Schon seine Annäherungsversuche versteht sie, als sei er bestrebt, „… sie sich einzuverleiben…“ (S. 33) und später „…, wie sollte man sich neben diesem Koloss halten?“ (S. 108)  Zum Ende hin vergleicht sie ihre Liebe und Ehe mit einem Stellungskrieg.


Warum schaffte sie es nicht, sich zu amüsieren? (S. 107)

Heißt also: Claras Perspektive – mehr und mehr zeigt sich deren depressiver Charakter - bestimmt die Erzählung ihres Lebens. Ich entwickle großes Verständnis für die Lage und das Dilemma, worin sie unter Berücksichtigung aller aufgeführten Punkte steckt. Die Erzählung wird aber dadurch teilweise auch sehr zäh, weil die Autorin konsequent aus diesem Moment „Clara am Fenster stehend“ heraus erzählt und auch die Personen um sie herum, allen voran natürlich Fritz Haber, sich nicht anders betrachtet entwickeln können als durch ihre Augen und ihre Wahrnehmung.

 

Claras Geschichte lese ich schließlich als exemplarisches Zeitzeugnis der Abhängigkeiten und Nicht-Freiräume der Frauen vor etwas mehr als hundert Jahren in Deutschland. Ihre Geschichte ist somit auch die Geschichte von Fritz Haber. Eine Frauengeschichte und ein Frauenleben, wie wir es mit den Begrenzungen auch heute noch in weiten Teilen unserer immer noch männerdominierten Welt finden können.

 

Clara Immerwahr entschied sich für den Freitod. Sabine Friedrich betont in ihrem Nachwort, diesen Schritt nicht als bewunderungswürdig oder gar heldenhaft verstanden haben zu wollen.

 

P. S. Zum Buch gibt es auch einen Film, der für mich Auslöser zur Lektüre war.


Sabine Friedrich, 1958 in Coburg geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte 1989 in München. Nach zahlreichen Wohnungs-, Orts- und Berufswechseln quer durchs In- und Ausland lebt sie heute mit ihrer Familie wieder in Coburg. 


Sabine Friedrich, Immerwahr, Deutscher Taschenbuch Verlag, Oktober 2007, 217 Seiten, ISBN 978 3 423 24610 1

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