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Sylvia Wage "Grund"


Wow! Ein Buch, das ganz und gar meinen Geschmack getroffen hat und das sich - das kann ich jetzt schon sagen - in die Liste meiner Jahreshighlights einreihen wird.

 

Die Geschichte allerdings ist keine zum Wohlfühlen. Sie handelt von einer Familie, die von ihrem Vater in jeglicher Form tyrannisiert wird – Machtausübung, Demütigung, Missbrauch, Gewalt, Repressionen…

 

Trotzdem gelingt es Sylvia Wage, dass ich in die Geschichte eintauche, eintauchen will, in dem Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen. 


Ich aber brauchte mein ganz eigenes Unsichtbar. (S. 26)

Sylvia Wage "Grund"
Sylvia Wage "Grund"

Woran liegt das und was meine ich damit?

 

Die Geschichte lebt von der erzählenden Hauptfigur. Ein geschickter Schachzug: Es ist nahezu nicht erlesbar, ob sie tatsächlich männlich oder weiblich ist, aber ja: Ich habe mich aufgrund einer Stelle auf eine Erzählerin festgelegt! Und ich meine auch, dass es eine Erzählerin ist, weil abgesehen vom übermächtigen Vater Männer in diesem Buch keine Rolle spielen.  

 

Da sind viele, viele Momente, die sind einerseits vom Grund her zum Heulen und dennoch schafft die Ich-Erzählerin es, mich in ihrer lax-flachsigen Art zum Schmunzeln zu bringen. Die sich das Lügen als eine Art Schutzschild angelegt hat und die selber zugibt zu lügen. Was kann ich daher glauben, wo liegt die Wahrheit und wo beginnt die Lüge? Ganz aktiv werde ich dabei als Leserin einbezogen, ja aufgefordert, meine Leseaugen zu nutzen, hinzuschauen und hinter die Fassade zu lesen. Und ja, wiederum sind Stellen, die dann ganz und gar eindeutig wahr sein müssen.

 

Auffällig und mit einer gewissen Penetranz lässt mich die Autorin von Möglichkeit zu Möglichkeit der titelgebenden Wortfamilie schwimmen: gründlich, nicht ohne Grund sein, wenn man es begründen konnte, die Dinge zu Grunde legen, einen Grund nennen, auf den Grund gehen …

 

Der Sache – nämlich der mit einem Brunnen und dem Vater - wirklich auf den Grund zu gehen misslingt jedoch, aber das tut meinem Leseerlebnis keinen Abbruch. Ganz und gar nicht. Offen gestaltet, raffiniert und erzählerisch dicht gelöst von Frau Wage. Ich mag Kapitel, die wie Happen mit einer Überschrift serviert werden (siehe Salih Jamal „Das perfekte Grau“) und für mich absolut belebend das zeitliche Hin und Her, was so gut zu den „Gedankenglühwürmchen“ der Erzählerin passt.      

 

Bitte:

Schenkt dieser Autorin und „Grund“ Eure Leseaufmerksamkeit - absolut zu Recht mit dem Blogbuster-Preis 2020, dem Preis der Literaturblogger, ausgezeichnet!


Aus der Klappe: Sylvia Wage, 1974 geboren in Zwickau, gelebt in Dresden, gestrandet in Berlin. Tätig in der Öffentlichkeitsarbeit im Bereich Pharma und Biotech. Literarisch engagiert - regional und virtuell. Veranstaltet Lesungen, Lesekreise und Autorentreffpunkte, administriert das literarische Blognetzwerk Wababbel und ist gelegentlich prägendes Mitglied im Berliner Literaturlabel zuckerstudio waldbrunn. Sylvia Wage ist Bonner Literaturpreisträgerin 2016 und Blogbuster-Preisträgerin 2020. 


Sylvia Wage, Grund, Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, 2021, 175 Seiten, ISBN 978 3 8479 0093 1

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