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Saša Stanišić "Vor dem Fest"


Fürstenfelde, ein Dorf in der Uckermark. Es ist die Nacht vor dem Fest, vor dem alljährlichen Annenfest. 

… also wisse, Mensch, daß du jederzeit begegnen kannst einem Schiff voll Narren. (S. 159)


Nur diese Nacht, in der: Entwickelt sich ein Geschichtenkaleidoskop, das mehr und mehr besondere, wunderliche, verrückte, skurrile und dann dennoch auch wieder so normale Figuren freigibt. Frau Kranz, die Malerin, Herr Schramm, der ehemalige NVA-Offizier, Ulli, in dessen Garage wir einen trinken können, Frau Schwermut, die das Haus der Heimat führt. Deren Sohn Johann, der ist in Lehre beim: Glöckner, ja so einen gibt es hier sogar noch. Und einen Fährmann, doch der ist tot…

  

Mit ihnen und anderen verwinden sich die gegenwärtigen Geschehnisse während dieser wenigen nächtlichen Stunden vor dem Fest mit Erinnerungen und den Legenden aus der Vergangenheit.

Saša Stanišić "Vor dem Fest"
Saša Stanišić "Vor dem Fest"

„Vor dem Fest“ von Saša Stanišić hat mich passenderweise vor dem Fest erwischt. Und genauso wie in den Wochen vor dem (Weihnachts)fest manches Mal die Stimmungs- und Konzentrationslage variiert, zwischen himmelhochjauchzend und nun - in irgendeiner tieferen - Weise betrübt wechselte auch meine Leselust- und Genusslage an diesem Buch und seinen (Anti)helden. Ich war streckenweise tief versunken in den Geschichten und Figuren, die dann mit Witz, Charme und Liebe dargestellt waren, und dann las ich wieder, ohne ganz zu wissen, von wem und was gerade die Rede war.

 

Eine gewisse Schuld daran will ich aber auch dem Dorf in die Schuhe schieben, das als (Wir-)Erzähler fungiert und das mich oft tief in die Psyche seiner Bewohner*innen und Geschichten zog und dann aber auch wieder auf Distanz ging und mich nicht einließ. Nun, vielleicht ist das gerade so, wie sich auch die Situation in einem Dorf gestaltet: Leutchen, die das Geschehen bestimmen, die wir mehr kennen, die einem vertrauter sind, und solche, die man zwar vom Hörensagen kennt, aber zu denen wir weniger Zugang haben. Wenn das von Herrn Stanišić so gewollt ist, dann ist das irgendwie schon wieder genial komponiert und umgesetzt.

 

So schlägt mein Herz zwar nicht durchgängig für dieses Buch (oder Dorf?), aber besonders kräftig, wenn der Autor mit seiner ganz eigenen, empathischen und humorigen Weise die Figuren und Handlungen gerade in ihren schwachen und kritischen Momenten beschreibt.

 

Und deshalb im Gedächtnis bleiben wird.


Aus der Klappe: Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad in Bosnien-Herzegowina geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seit Debütroman "Wie der Soldat das Grammofon repariert" begeisterte Leser und Kritik gleichermaßen, er wurde bisher in 30 Sprachen übersetzt. Stanišić erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Auszüge seines neuen Romans "Vor dem Fest" wurden bereits vor Erscheinen ausgezeichnet mit dem Alfred-Döblin-Preis sowie dem Hohenemser Literaturpreis. 

Anmerkung meinerseits: Für "Vor dem Fest" bekam der Autor 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse. Für seinen Roman "Herkunft" 2019 den Deutschen Buchpreis.


Saša Stanišić "Vor dem Fest", Luchterhand Literaturverlag, 4. Auflage, München 2014, 136 Seiten, ISBN 978 3 630 87243 8 (Ausleihe aus der Gemeindebücherei Zellingen)

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