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Gertraud Klemm "Erbsenzählen"


Wie sehr Romanfiguren - auf irgendeine Weise zumindest - Sympathieträger sein sollten, habe ich ganz besonders bei Gertraud Klemms „Erbsenzählen“ gemerkt. 

 

Wien 2017. Annika, Ende 20, hat sich – nachdem sie ihre Anstellung als Physiotherapeutin aufgegeben hat – für ein Studium der Kunstgeschichte entschieden und kellnert im „Namenlos“. So wie die damit erhoffte Freiheit im Beruflichen, sucht sie diese auch im Privaten: liiert ist sie mit Alfred, Ende 50, erfolgreicher und prominenter (Kultur)Radiomoderator. Bewusst hat sie sich gegen „konventionelle Lebenspläne“ entschieden, denn Familie, Kinder, Haus, Hof, Auto (Yacht 😉) – all das verbucht sie für sich und für andere unter Erbsenzählerei.


„…Besserwisserei in einer fettigen Panade aus Fantasielosigkeit…“ (S. 54)

Gertraud Klemm "Erbsenzählen"
Gertraud Klemm "Erbsenzählen"

Zur Kategorie der Erbsenzähler rechnet sie so gut wie jeden und jede um sie herum und teilt mithin kräftig gegen sie aus: Gegen die Ex von Alfred, Valerie, und deren gemeinsamen Sohn Elias. Gegen ihre Eltern. Gegen ihre Geschwister. Gegen ihre Ex-Freunde. Gegen die Freunde von Alfred. Selbst gegen ihre beste Freundin Theodora.

 

So mäandert sie in ihrem Gedankensumpf herum - immer schön mit ihrem ‚halbleeren Glas‘ in der Hand - und mir bleibt angesichts ihrer pausenlosen Läster- und Sticheleien in alle Richtungen bei allem von Frau Klemm so punktgenau gesetztem Humor und Witz das Lachen beim Lesen oft im Halse stecken. Annika ist mir einfach lange Zeit unsympathisch.

 

Aber der Schmäh-Schutzschild wird eben von diesem attackiert: dem Leben und seinen Unwägbarkeiten - und bekommt Risse – und Annika wird auf sich selbst, ihre Freiheit und ihren Lebensentwurf, den sie bar jeglicher Verpflichtungen und Entscheidungen glaubt, zurückgeworfen. Sie und ihre Sicht auf die Welt kommen immer mehr ins Strudeln… Gertraud Klemm lässt Annika dann verletzbar und verunsichert wirken und auf eine schmerzhafte Art und Weise verloren – und sobald diese wunden Punkte durchzuscheinen beginnen, beginne ich Annika tatsächlich und wirklich und zutiefst zu mögen. 

„… angeschraubt im Leben eines Mannes …“ (S. 79)

Bei aller anfänglichen Apathie gegenüber der Ich-Erzählerin lässt mich ihre Geschichte sehr, sehr nachdenklich zurück.

 

Wie begegnen wir Menschen und insbesondere Frauen, die von dem von der Gesellschaft genormten Lebensweg abweichen? Spüren die Abweichler*innen immer wieder die Erwartungen des Restes der Gesellschaft, die ‚Kurve kriegen zu müssen‘? Wie tolerant wirken wir wirklich und mit welchen Aussagen und Gesten übermitteln wir unbewusst Unverständnis, obwohl wir vordergründig Einverständnis vorgaukeln? Wie sind wir Frauen definiert – über den Mann an unserer Seite? Und wie als Mensch – über den Beruf, den wir ausüben?

 

160 intensive Seiten, die ich dringend empfehle zu lesen.

 

P. S. Vergönnen, Klapotetz, Schilchersturm, Buschenschank, Schneewechte usw. usf. – Frau Klemms Wienerisch (oder Österreichisch???) eignet sich auch hervorragend zur Wortschatzerweiterung ;-).


Aus der Klappe: Gertraud Klemm, geboren 1971 in Wien, aufgewachsen in Baden, Biologiestudium. Sie erhielt mehrere Stipendien und Förderpreise, u. a. den Harder Literaturpreis 2012 und den Publikumspreis beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb 2014. Ihr Roman Herzmilch (2014) stand auf der Shortlist des European Union Prize for Literature und Aberland (2015) auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. 


Gertraud Klemm, Erbsenzählen, Roman, Literaturverlag Droschl Graz, Wien 2017, 160 Seiten, ISBN 978 3 99059 006 5

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