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Nell Leyshon "Ich, Ellyn"


Suchst Du etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches zum Lesen?

 

Dann bist Du bei Nell Leyshon und ihrem Roman „Ich, Ellyn“ genau richtig. In der Leserunde von der Lektüre überzeugt, ging ich, zugegebenermaßen, etwas skeptisch an diese heran: ein Stoff, der im 16. Jahrhundert spielt, und eine Sprache, ein Schreibstil, der von Anbeginn anders ist: in kompletter Kleinschreibung, ohne Satzzeichen, ohne Punkt und Kommata und auch in seiner Ausdruckweise ganz und konsequent auf die Ich-Perspektive der Hauptfigur, der elfjährigen Ellyn, abgestimmt: grammatikalisch inkorrekt, holprig in der Satzstellung, eben einfach und ursprünglich, derb zuweilen, wie die Denke und die Sprache einer Bauerstochter 1573 auf dem Land und ohne jegliche konventionelle Bildung gewesen sein mögen

 

So weit, so überraschend - so flüssig jedoch liest sich der Text! 


Nell Leyshon "Ich, Ellyn"
Nell Leyshon "Ich, Ellyn"

Ellyn zieht mich gerade durch dieses Stilmittel in ihren Bann. Ellyns Erzählungen und Perspektive haben bei allem Ablehnendem und Negativem, das sie traurigerweise vor allem in ihrer Familie erfährt, dennoch fast etwas Melodisches und immer wieder auch Zartes an sich. Besonders, wenn sie an ihre gerade geborene Schwester Agnes denkt - unbedingte Triebfeder ihres Handelns -, wenn sie in die Welt der Musik abgleitet oder immer wieder auch Schlupflöcher und dadurch schöne Momente in ihrer harten kindlichen Umgebung findet.

 

Ruckzuck gewöhne ich mich an die Verquerungen in ihrer Sprache und folge fasziniert ihrem „Singsang“ - gepaart ist dieser nämlich mit einem eisernen Willen - eines Tages spürt Ellyn ihr Talent - ihre herausragende Stimme, ihren Gesang - und man wird darauf aufmerksam… Sie findet ihre Möglichkeit, in die Singschule der Kirche aufgenommen zu werden, obwohl sie ein Mädchen ist…

 

In Ellyns Eroberung der Welt geht es um Herkunft, ums Frausein, um die Überwindung der „Grenzen deines Lebens“ (S. 192), die auch und vor allem auch etwas mit der Sprache (und mit der Art des Fragens) zu tun hat, es geht um Selbstbefreiung, um Selbstbestimmung und um Selbstverwirklichung. All diese sehr modernen Themen ins 16. Jahrhundert gesetzt in Kombination mit dem weitestgehend ungehinderten und gefahrlosen Hinübergleiten Ellyns in die höhere Bildung und Schicht wirken auf mich teilweise zu unglaubhaft. Auch das Ende lässt mich unzufrieden zurück.

  

All dies sollte Euch neugierig machen, aber bitte, bitte nicht abhalten, dieses erstaunliche Buch mit dieser außergewöhnlichen Geschichte zu lesen! 


NELL LEYSHONs Romane, Theaterstücke und Hörspiele erhielten bereits namhafte Auszeichnungen. Im Eisele Verlag erschien der Roman Die Farbe von Milch, für sie neben James Alter und Zeruya Shalev für den Prix Femina nominiert war. Es folgte Der Wald, "eine herzzerreißende Liebeserklärung an Söhne und ihre Mütter" (Brigitte). Mit Ich, Ellyn legt Nell Leyshon erneut einen Roman vor, in dem ein junges Mädchen seine von Geburt an benachteiligte Stellung nicht hinnimmt und sich mit aller Macht seinen Platz im Leben erkämpfen will. Nell Leyshon wurde in Glastonbury geboren und lebt heute in Dorset.

 

WIBKE KUHN arbeitete nach dem Studium zunächst im Verlag und machte sich dann als Übersetzerin selbstständig. Sie überträgt skandinavische, englische und italienische Romane und Sachbücher ins Deutsche (u.a. Stieg Larsson, Jonas Jonasson, Anita Brookner) und lebt in München.


Nell Leyshon, Ich, Ellyn, Roman, Aus dem Englischen von Wibke Kuhn, Julia Eisele Verlags GmbH, München 2022, 224 Seiten, ISBN 978 3 96161 129 4 

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