· 

James Baldwin "Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort"


„Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort“ ist sicher einer seiner weniger bekannten Romane - aber auch hier schreibt James Baldwin so, wie ich ihn aus der Jahrzehnte zurückliegenden Lektüre in Erinnerung habe: voller Kraft und Leidenschaft, mit einer enormen Authentizität und präzisen Beobachtungsgabe: Die Geschehnisse und Charaktere breitet er sezierend, aber nie bloßlegend vor mir auf, hier bezogen auf die Hauptfigur, Leo Proudhammer, 39, und sein Umfeld.

 

Proudhammer erleidet einen Herzanfall, eine Attacke, die ihn ausknockt aus seinem berühmten und erfolgreichen Wirken als Schauspieler. In der erzwungenen Pause blickt er auf ein facettenreiches Leben zurück: auf seine Kindheit in Armut in Harlem, in der ihn der ältere Bruder Caleb prägte, auf die Lehrjahre als Schauspielschüler in San Francisco und das anschließende Überwasserhalten durch diverse Jobs, um dann doch DIE Chance geboten zu bekommen, auf ein offenes Liebesleben und die Unmöglichkeit und Möglichkeit der großen Liebe.


James Baldwin "Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort"
James Baldwin "Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort"

James Baldwin beschreibt das Großwerden eines Menschen, das exemplarisch stehen könnte für das Verwirklichen dieses gepriesenen „amerikanischen Traumes“. Proudhammer hat es geschafft, ja. Aber, hey, da ist ja noch was: Leo ist Schwarz.

 

Baldwins Finger gehen schmerzvoll tief in die offenen Wunden mit der unmissverständlichen Aufforderung, an „die Menschen da draußen, meine Landsleute“ (S. 184): Schaut hin, wacht doch auf, was ist mich Euch los, seht Ihr es nicht? Hinter einem, der’s geschafft hat, stehen die Massen an Ungesehenen, deren Leben weiter so funktioniert wie das Leos vor seinem Aufstieg.  Mit einer anderen Hautfarbe als Weiß bist du stigmatisiert, du bist Demütigungen, Vorurteilen, Ignoranz, Herablassung, Ausbeutung ausgesetzt.

 

Baldwins Botschaft war damals in den 1920er, 1940er, 1960er Jahren, da der Roman spielt, aktuell und ist sie beschämenderweise heute gleichsam noch: Fangt endlich an, uns und einander wie Menschen zu behandeln.

 

Meisterhaft! Dicke Leseempfehlung.


James Baldwin, geboren am 2. August 1924 in New York und in Harlem aufgewachsen, war in seiner Jugend drei Jahre lang Laienprediger, dann Gelegenheitsarbeiter. Er wurde zu einem der bedeutendsten Wortführer der Bürgerrechtsbewegung. 1948 bis 1957 hielt er sich in Paris auf. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. James Baldwin starb am 30. November 1987 in St. Paul-de-Vence (Südfrankreich).


James Baldwin, Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort, Roman, Aus dem Amerikanischen übertragen von Gisela Stege, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg, November 1991, 346 Seiten, 1280-ISBN 3 499 11863 7

Kommentar schreiben

Kommentare: 0