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Gertraud Klemm "Einzeller"


Ja, ich habe mit Gertraud Klemm’s Roman „Einzeller“ lange gehadert. Viel Theorie hielt mich zunächst fern vom Geschehen – ich fühlte mich wie die Zuschauerin einer feministischen Diskussionsrunde oder Talkshow, und dabei hatte ich – als Frau - irgendwie erwartet, dass ich sofort ein Teil dieser 5er Frauen-WG in Wien werden würde.

 

Die sich „Bienenstock“ nennt und sich in Vorbildfunktion und als kleine feministische Revolution versteht, so ganz ohne Männer, ungebunden von ihnen und dem patriarchalischen Gedöns. Und Simone, Flora, Maren, Eleonora und Lilly würden sich so auch gerne präsentieren - in dem TV-Format „Big Sista“ (a la Big Brother), an dem sie mit einer queeren und einer Granny-WG teilnehmen.

 

Aber so einfach ist es nicht.


„…wie schnell aus Ideologie Ballast geworden ist…“ (S. 259)

Gertraud Klemm "Einzeller"
Gertraud Klemm "Einzeller"

Die Gesellschaft ist mit über Jahrhunderte von Männern geprägten Strukturen und Verhaltensweisen durchwirkt.  Das beginnt hier bei einer Kleinigkeit: Als Moderator der Sendung wird den Frauen freilich ein Mann vor die Nase gesetzt... und erstreckt sich im Großen auf so viele Bereiche – Sprache (mithin Literatur), Politik, Religion, Kirche, das soziale Miteinander, den Familienalltag, im Beruflichen wie Privaten usw. usf. –

 

Wie mühselig es ist und wie lange es dauert, dies aufzubrechen, welche inneren und äußeren Umstände Frauen immer wieder daran hindert, zeigt Gertraud Klemm umfänglichst auf. Insbesondere am Beispiel ihrer zwei Erzählstimmen: der von Simone, 60, einer erfahrenen Alt-Feministin, und der von Lilly, Anfang 20, feministisch interessiert, aber unbedarft. Das Handeln beider Frauen gegenüber Männern und die Erfahrungen, die sie machen, sind nicht unähnlich – trotzdem fast zwei Generationen und nahezu vierzig Jahre feministischer Kämpfe und Errungenschaften zwischen ihnen liegen. 

 

Das ist klug und differenziert dargestellt, sehr aktuell und ist beim Lesen – in dieser komprimierten und verdichteten Weise - unbequem und anstrengend und schmerzhaft.

 

P. S. Hier findest Du meine Rezension zu Gertraud Klemm "Erbsenzählen".


Gertraud Klemm, 1971 in Wien geboren, studierte Biologie und arbeitete als hygienische Gutachterin bei der Stadt Wien. Seit 2006 ist sie freie Autorin. Ihr Roman "Aberland" stand 2015 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Für ihre Texte erhielt sie zahlreiche Preise, u.a.: Publikumspreis beim Bachmannpreis 2014, Outstanding Artist Award für Literatur 2020, Ernst Toller Preis 2021, Anton Wildgans Preis 2022. Zuletzt erschien ihr Roman "Hippocampus" bei Kremayr & Scheriau.


Gertraud Klemm, Einzeller, Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, 2. Auflage, Wien 2023, 308 Seiten, ISBN 978 3 218 01382 6

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