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David Grossman "Kommt ein Pferd in die Bar"


David Grossman hat es geschafft: Ich sitze auch am Ende dieses Abends noch in diesem Saal. Vor mir auf der Bühne in Netanja in Israel steht ein 57jähriger, Dovele Grinstein, Stand-up-Comedian, kurz, dürr, ein wenig abgewrackt, vom Leben gezeichnet. Dovele spielt mit mir, er versucht mich und das Publikum zu manipulieren. Grinstein ist schamlos, grenzenlos, sexistisch, ohne Empathie, finde ich.  Wie lange will ich mir das noch antun, wie er mit mir und den Menschen um mich herum umgeht? Im Publikum sitzt auch einer, zu dem Dovele immer wieder längeren Blickkontakt sucht … 

„… ein Blick in die Hölle von jemand anderem.“ (S. 108)

David Grossman "Kommt ein Pferd in die Bar"
David Grossman "Kommt ein Pferd in die Bar"

Warum und wann genau Dovele beginnt, von sich zu erzählen, ich weiß es nicht. Es hat was mit der kleinen Frau im Publikum zu tun, die sich unter seinen verletzenden verbalen Angriffen duckt, sie weglächelt und dennoch Kontra gibt … Ich höre zu. Fasziniert. Ich sehe, wie die weiße Farbe, die Maske des Comedians, mehr und mehr abblättert und sein Gesicht frei gibt. Eltern, die die Shoah überlebten und die hier in Israel irgendwie auch weiterlebten; mit einem Sohn, der von Anfang an und aufgrund seiner kleinen Körperstatur Außenseiter war, aufs Schärfste von seinen Schulkollegen gemobbt und von seinem einzigen Freund - eben der da auch sitzt im Publikum - im Stich gelassen wurde. Der es schafft, die Torturen lächerlich machend zu kompensieren, der, wenn es gar nicht mehr anders geht, auf Händen läuft - die Welt verkehrt herum sehen: „So lange ich so bin, kann mir keiner was anhaben.“ (S. 134) Ja, und der dann sein Leben lang das Witzereißen, das Lustigmachen, das Sich-zur-Schaustellen nutzt, um das eigentlich Unerträgliche zu verdrängen und zu ertragen – sich selbst und sein Leben und seine Widersprüche.

 

Grossmanns Taktik: ein scheinbar ständiger Perspektivenwechsel.  Aber der da erzählt ist der, der da im Publikum sitzt: Doveles Freund aus Kindheitstagen, Richter in Rente. Den Dovele zu dieser Vorstellung eingeladen hat und von dem er sich nun ein Urteil über sich wünscht, eine Quintessenz dessen, was ihn ausmacht. Ich schlüpfe in des Richters Kopf, in sein schlechtes Gewissen, in seine Rückblicke mit und ohne seinen Kumpel, ich sehe mit seinen Augen Dovele auf der Bühne rumhüpfen, seine Hampeleien, sich ans gesamte Publikum und an einzelne wendend - und schließlich von seiner Vergangenheit erzählen. Das, was ich sehe und höre, schmerzt und tut weh, das macht traurig und wütend, denn es ist auch die Perspektive dessen, der Dovele vor vierzig Jahren einmal ganz nah, vielleicht je am nächsten war.

 

Doveles Auftritt wird zu einer psychologischen Gratwanderung mit Sogwirkung. Ich beobachte das Stehaufmännchen auf der Bühne, Grinstein, der sich blank macht, der abzustürzen droht und immer wieder taumelt – zwischen Tragik, Komik, Zynismus und Menschsein. Der gespalten ist wie das Land und die Welt, in der er lebt, die Menschen spaltet.

  

Ganz großes Erzählkino.


David Grossman, 1954 in Jerusalem geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwartsliteratur.  Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012) und Aus der Zeit fallen (2013). 2008 erhielt Grossman den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

 

Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik in Berlin und Jerusalem und lebt seit 1989 in Israel. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Universität in Jerusalem und übersetzte u. a. Aharon Appelfeld, Chaim Be'er, Daniella Carmi, Dan Pagis und Yaakov Shabtai.


David Grossman, Kommt ein Pferd in die Bar, Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Carl Hanser Verlag, München 2016, 252 Seiten, ISBN 978 3 446 25050 5

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