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Caroline Wahl "22 Bahnen"


Viele begeisterte Reaktionen gehen meiner Lektüre von Caroline Wahls Roman „22 Bahnen“ voraus. 

 

Das kann ich nachvollziehen – denn Caroline Wahl behandelt sensible Themen, über die gerne in der Öffentlichkeit hinweggesehen wird, und gestaltet sie mit authentischen Figuren, die altersgerecht und nachvollziehbar agieren. Was mir aber insbesondere und ausgesprochen gefällt ist die Perspektive, die Caroline Wahl gewählt hat. Tildas nämlich. 


Caroline Wahl "22 Bahnen"
Caroline Wahl "22 Bahnen"

Tilda ist Mitte Zwanzig, Mathematikstudentin, die jedes Detail in ihrem Kopf in Zahlen verwandelt* und von ihrem Prof noch vor Abgabe ihrer Masterarbeit für eine Promotionsstelle in Berlin empfohlen wird. Als Heranwachsende ist sie selbst mehr und mehr den immer krasser werdenden Begleiterscheinungen der Depression und Alkoholsucht der alleinerziehenden Mutter ausgesetzt. Parallel dazu entwickelt sie sich als große Schwester von Ida - zur Erzählzeit zehn - zu deren allerwichtigster und einziger Bezugsperson.

 

Die junge Frau sorgt sich, kümmert sich um Ida, sie macht und tut, was eigentlich eine Mutter (und der abwesende Vater) tun müssten. Dabei fängt sie auch noch die irgendwie dahinlebende Mutter und ihre Kapriolen auf, „die Frau“, „das Monster“, „die tickende Zeitbombe“.  Und diese Verantwortung, die oft über das Ertragbare geht, übernimmt sie in einer Lebenszeit, in der sie eigentlich selbst und ihr „Ich“* im Mittelpunkt stehen dürften – als Jugendliche und junge Erwachsene.

 

Tilda lebt Ida vor, dass es gehen muss, so heranzuwachsen – wenn es gelingt, sich Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, für Tilda das Schwimmen, das Wegtauchen im Schwimmbecken, die Zahlen, die Musik und eine heranwachsende Liebe – und Ida zeigt Tilda, dass sie dank ihr und mit ihr auch an den Katastrophen ihres gemeinsamen Alltags stark werden kann.

 

Was auch immer dieser Roman in sich trägt – Familiengeschichte, Coming-of-Age, Entwicklungsroman - ist es für mich vor allem eins: die Geschichte einer großen Geschwisterliebe. Für viele, die so oder ähnlich wie Tilda und Ida leben, in manchen Aspekten vielleicht utopisch, aber dafür sehr hoffnungsgebend, dargestellt.

 

Vier von fünf Miezen.

 

Nachsatz

 *Tildas Zahlenaffinität zeigt die Autorin in der durchgängig gewählten Ziffernschreibweise der Zahlwörter im Roman und die Dialoge gibt Tilda lediglich immer mit einem „Ich“ und/oder „Ida“ vorgesetzt wieder. Beide stilistischen Mittel braucht es für mich nicht, um die Messages, die darin, wie beschrieben, verborgen scheinen, zu transportieren.


Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. "22 Bahnen" ist ihr Debütroman. Caroline Wahl lebt in Rostock.


Caroline Wahl, 22 Bahnen, Roman, DuMont Buchverlag, Dritte Auflage, Köln 2023, 205 Seiten, ISBN 978 3 8321 6803 2

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