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Anne Rabe "Die Möglichkeit von Glück"


Für Stine, drei Jahre, scheinen der Mauerfall in Berlin und die Grenzöffnungen der DDR 1989 ein Glücksfall zu sein. Ihr Leben liegt noch vor ihr, und die Diktatur, in die sie 1986 hineingeboren wurde, ist beendet. „Die Möglichkeit von Glück“ besteht.

  

Aber ihre Familie wird von der Mutter ebenso diktatorisch, gebieterisch weitergeführt, und Mutter, Vater und Großeltern sind fest verankert in die Strukturen und in die Ideologie des Systems DDR. Sie sind nicht willens, ihre Verbundenheit mit der Vergangenheit zu lockern, zu reflektieren, geschweige denn mit Stine und ihrem Bruder Tim darüber zu reden, auch nicht der von ihr so geliebte Opa Paul. Um das Schweigen und ihre eigenen Prägungen zu verstehen, begibt sie sich als Erwachsene auf Spurensuche...

„… dass meine Eltern unsere Vergangenheit in zu Ostzeiten und zu Westzeiten einteilten, dass es Ossis und Wessis gab, dass die Wessis schlecht und die Ossis, also auch ich, irgendwie besser waren, auch wenn die Wessis das ganz anders sahen.“ (S. 31)

Auf ihrer Reise in die Vergangenheit redet Stine mit Freunden, sucht Antworten in Archiven und in der Stasiunterlagenbehörde, liest DDR-Gesetzestexte, durchforstet Bibliotheken und Antiquariate, begibt sich an die „Dunkelorte der DDR“, erinnert sich selbst und gemeinsam mit ihrem Bruder. 

Anne Rabe "Die Möglichkeit von Glück"
Anne Rabe "Die Möglichkeit von Glück"

Vieles, das sie beschreibt, erinnere ich ähnlich, anderes ist mir in dem Umfang nicht bekannt gewesen (bspw. die Dimension der Jugendwerkhöfe). Gerade in den letzten Jahren hat mich immer wieder beschäftigt, inwiefern mich das (Erziehungs)system DDR in der Gesellschaft und auch im Elternhaus geprägt hat. Anne Rabe beschreibt Werte, die mir als Kind und Heranwachsende genauso vermittelt wurden, und die mich noch weit in meine Persönlichkeit als Erwachsene „verfolgt“ haben: das Stillsein, das Sich-im-Griff-haben, das Unauffällig-Bleiben, das Sich-Unzulänglich-Fühlen, die Schuldsuche bei sich selbst (das System kann, darf ja nicht falsch sein).

 

Über dieses Persönliche hinaus überzeugt mich Anne Rabe mit der Art, wie sie Stine – die selbst erzählt – agieren lässt. Stine denkt nach, beschreibt, beleuchtet und bietet an - suchend, fragend, sich herantastend an Wahrheiten ihrer Familie und der DDR, um sich selbst zu verorten und abgrenzen zu können. Der Mix aus Recherche, Erinnerungen, Selbstgesprächen, aus Fakten, Biografischem, Historischem und Aktuellem macht Tiefe und Weite möglich. Geht tief und weit. Das Fragmentarische lässt Lücken zum Selbstfüllen…

 

… aus Ostzeiten, aus Westzeiten, vom Ossi, vom Wessi. Aus Richtung Ost, aus Richtung West, West, Ost, Ost, West. Nord. Süd. Ost. West.

  

Anne Rabe und „Die Möglichkeit von Glück“ stehen auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2023 und wären für mich überaus würdige Preisträger. 


Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück, Roman, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart 2023, 381 Seiten, ISBN 978 3 608 12161 2

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