· 

Sepp Mall "Ein Hund kam in die Küche"


Das kindliche Ich im Literarischen darzustellen finde ich immer schwierig. So gut auch der Roman geschrieben, komme ich oft an Stellen, an denen ich zweifle, ob so ein Kind denkt, fühlt, erzählt und – freilich – ich kann mir es selbst nicht anmaßen, als Erwachsene, dies schlussendlich zu beurteilen. 

 

Sepp Mall lässt in „Ein Hund kam in die Küche“ den elfjährigen Lidu erzählen, der in Mariendorf in Südtirol aufwächst. Seine Eltern entscheiden sich 1942 für die sogenannte „Option“, das faschistische Italien unter Mussolini und Nazideutschland vereinbaren, Deutschstämmige ‚heim ins Reich‘ kehren zu lassen. Die Familie um Lidu landet schließlich in Österreich - er, Vater, Mutter und der fünfjährige Hanno, der anders ist, der schief läuft, kaum sprechen kann, der immer wieder eine Art epileptischer Anfälle hat. Sie müssen erste Untersuchungen über sich ergehen lassen. Der Bruder kommt ins Heim, in eine Heil- und Pflegeanstalt, der Vater wird bald eingezogen, die Mutter und Lidu bleiben zurück. In der Fremde.


Wir waren nicht mehr bei uns, sondern ganz woanders. (S. 77)

Ich habe Lidus Erleben, seine Gedanken und Gefühle eingesaugt, eingesuchtet. Sepp Mall gelingt es, sie auf eine ungemein empathische und zartfühlende und poetische Weise, die er dem eigentlich nicht Ertragbaren entgegensetzt, wiederzugeben. Ich komme Lidu so nah, dass ich ihn verstehe und mit ihm leide. Ich sehe den Vater überzeugt in den Krieg ziehen und gebrochen zurückkehren. Die Mutter agiert tapfer und erträgt still. Ich vermisse den Bruder, der nicht wiederkommt und es dennoch tut – für mich nur. Ich habe ein paar gleichaltrige Freunde, die mir das Leben an den neuen Orten erleichtern und mir helfen, die Erwachsenen und ihre Sprache und die des Krieges zu begreifen. Es gibt Momente, die sehr weh tun, und es gibt solche, die einen Zauber haben und von denen ich ahne, dass sie mich, dass sie Lidu heilen helfen.

 

Diese Geschichte ist eine Geschichte um das Heranwachsen in katastrophalen Zeiten, es geht ums Fremdsein und ums Fremdbleiben, um Heimat und um Heimweh, um Geschwisterliebe, ums Überleben, ums kindliche Überleben.

 

Es geht auch wieder einmal darum, wie weit und tief Systeme und Diktaturen in familiäre Entscheidungen hineinreichen und was sie da anrichten.

 

Sind wir uns dessen bewusst.

 

Sind wir es?

 

P. S. Vielen Dank an @lesen_macht_gluecklich, dass ich dieses Buch gewinnen durfte.

2. P.S. Sepp Mall stand mit „Ein Hund kam in die Küche“ dieses Jahr auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

3. P. S. Highlight! Highlight! Highlight!


Sepp Mall, 1955 in Graun (Südtirol) geboren, Studium in Innsbruck, lebt als Schriftsteller in Meran. Diverse Preise und Stipendien, u. a. Meraner Lyrikpreis, Staatsstipendium des österreichischen Bundesministeriums und Großes Literaturstipendium des Landes Tirol. Sein Roman "Wundränder" wurde 2005 zum "Innsbruck-liest"-Buch gewählt und ist heute Schullektüre. Zuletzt erschienen der Roman "Hoch über allem" (Haymon 2017) und der Gedichtband "Holz und Haut" (Haymon 2020).


Sepp Mall, Ein Hund kam in die Küche, Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. & Co. KG, Graz - Wien - Berlin 2023, 191 Seiten, ISBN 978 3 7011 8286 2

Kommentar schreiben

Kommentare: 0