· 

Viktor Funk "Wir verstehen nicht, was geschieht"


Worum geht es?

Alexander, Ende 20, ist Historiker aus Deutschland, und promoviert zum Thema Gulag. Die Strukturen der sowjetischen Gefangenenlager sind bekannt, aber welchen Einfluss hatten sie auf die Menschen? Wie und warum hielten sie es so lange aus, unter den widrigsten Bedingungen und noch dazu aus an den Haaren herbeigezogenen Gründen festgehalten zu werden? Was machte das mit ihnen? Lew Glebowitsch Mischenko ist bereit, dem jungen Mann Auskunft zu geben und sogar persönliche Briefe dafür offen zu legen. Unter der Bedingung: Lew, schon über achtzig, bittet Alexander, ihn nach Petschora zu begleiten, dorthin, wo er fünfzehn Jahre interniert war und wo er noch einen Freund von damals, Jakow Israelitsch, besuchen will…


Meine Meinung

Der Roman war DAS Highlight in 2022 für @bianca.liebt.buecher, und sie legte es mir - als Leseexemplar von der Frankfurter Buchmesse mitgebracht - vielen Dank an den Verbrecherverlag 😊 - wärmstens an mein ähnlich wie ihr schlagendes Leseherz. Ich musste erst einmal durchschnaufen, bevor ich begann, und mich von den Vorschusslorbeeren lösen. Beeinflussen sie einen nicht zu arg im Urteil?

„Stark waren wir nur, wenn andere uns stärkten und wir sie. Wer einsam war … starb.“ (S. 82)

Viktor Funk "Wir verstehen nicht, was geschieht"
Viktor Funk "Wir verstehen nicht, was geschieht"

Und dann stieg ich mit Lew und Alexander in den Zug von Moskau nach Petschora, über dreißig Stunden Fahrt lagen vor uns, vor ihnen, pardon. Lew beginnt zu erzählen. Der Weg war seiner, er fuhr ihn erstmals – eben aus deutscher Kriegsgefangenschaft kommend - zusammengepfercht in einem Güterwaggon in erneute Gefangenschaft – in seiner Heimat. Swetlana, seine inzwischen verstorbene Frau, fuhr die Strecke später, um ihn zu besuchen, auf der Basis lebensgefährdender Tricksereien. Nun wieder und sich erinnernd ist in ihm kein bisschen Bitternis angesichts verloren geglaubter Jahre zu erkennen: Lew empfindet sein Leben trotzdem als Glück. Kraft, Halt, Hoffnung gaben ihm die Menschen draußen, aber ebenso waren im Lager solche, darunter Wärter!, die zu Freunden wurden.

 

Eine beeindruckende, unvorstellbare, aber auf Tatsachen beruhende Lebensgeschichte, von Viktor Funk mit Ruhe, voller Dichte und angenehmer Melancholie erzählt - sie wird getragen von einer außergewöhnlichen Hauptfigur, deren Aura sich auf ihren Gegenpart Alexander überträgt, bis über Lews Tod hinaus. 

 

Keine Ahnung, ob Ihr versteht, was ich meine. Aber das alles soll heißen: Lesen! um damit vielleicht über Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens und Menschseins nachzudenken und um sich wie Lew stets fürs Erstere zu entscheiden.


Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Viktor Funk arbeitet als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau. Sein erster Roman "Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich" erschien 2017. Er lebt in Frankfurt am Main.


Viktor Funk, Wir verstehen nicht, was geschieht, Verbrecher Verlag, Erste Auflage, Berlin 2022, 156 Seiten, ISBN 978 3 95732 536 5

Kommentar schreiben

Kommentare: 0