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J. L. Carr "Ein Monat auf dem Land"


Verzückung, ja, dieses altmodische Wort will ich verwenden: Ich war mehr und mehr verzückt beim Lesen dieser Geschichte. Und das begann nicht mit dem reizlosen Titel „Ein Monat auf dem Land“, noch beim Namen des Autors, von dem ich bis dato weder gehört noch gelesen hatte. Doch die Inhaltsbeschreibung auf dem Rückdeckel ließ mich das Büchlein mit nur 158 Seiten aus der Bücherei mitnehmen: „Yorkshire im Sommer 1920. Der Restaurator Tom Birkin steigt im idyllischen Oxgodby aus dem Zug. Er hat im ersten Weltkrieg gekämpft und ist nun damit beauftragt, ein mittelalterliches Fresko in der Dorfkirche freizulegen …“

 

Birkin selbst erzählt, jedoch aus dem Blickwinkel des gealterten Mannes. Er schaut auf das Jahr 1920 zurück, als er Mitte Zwanzig war, seinen ersten Auftrag bekam, mit frischen Kriegserfahrungen am Leib (er stottert zuweilen und hat Zuckungen im Gesicht), und zudem hat ihn seine Frau verlassen … Doch diese Dimensionen erfahre ich erst nach und nach.


J. L. Carr "Ein Monat auf dem Land"
J. L. Carr "Ein Monat auf dem Land"

Eine Hauptdarstellerin in „Ein Monat auf dem Land“ ist zweifellos die Sprache, klasse übersetzt von Monika Köpfer. Die Sprache ist elegant - jedoch lässig arbeitet J. L. Carr mit Einschüben in Klammern und zuweilen taucht wie aus dem Nichts zwischen gewählten Worten und überlegt geformten Sätzen Umgangssprache auf – ich hatte ein Dauergrinsen im Gesicht. Auch die oft direkte Ansprache an mich als Leserin beförderte, dass mich Tom Birkin voll auf seine Seite zog. In Oxgodby stellt Carr ihm nicht minder sympathische Menschen zur Seite, auch eine zarte neue Liebe darf nicht fehlen - und erstaunlicherweise entpuppt sich die Restaurierung des Kirchengemäldes als keineswegs langweilig – auch, da sie Grund ist für die Leutchen von Oxgodby, mit Birkin in Kontakt zu kommen, und bei diesen Treffen zeigt sich Tom als exzellenter Beobachter und schlitzohriger Akteur.

 

Ja, die Szenerie ist idyllisch und das Geschehen ist leichtfüßig dargestellt (viel passiert eigentlich nicht), dennoch und gerade deswegen schafft es der Autor, mich die Tragik in der Person von Tom Birkin ganz deutlich spüren zu lassen. Das kulminiert in einem Urschrei beim Radeln übers Land:

 

„Ihr Scheißkerle! Ihr verdammten Scheißkerle! Warum musstet ihr diesen Krieg beginnen? Und warum habt ihr ihn nicht früher enden lassen? Gott? Ha! Es gibt keinen Gott.“ (S. 105) 

 

Eine Zufallsausleihe, die sich zum absoluten Highlight entwickelte.

 

Meisterlich.


J. L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994 an Leukämie. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Romane. >Ein Monat auf dem Land< ist Carrs bekanntestes Werk und war 1980 für den Booker-Prize nominiert. 

 

Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikumsverlagen und ist heute als Übersetzerin und freie Lektorin tätig. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u.a. Mohsin Hamid, Naomi J. Williams, Richard Russo, Richard C. Morais, Milena Agus, Fabio Stassi und Theresa Révay.


J. L. Carr, Ein Monat auf dem Land, Aus dem Englischen von Monika Köpfer, DuMont Buchverlag, Erste Auflage, Köln 2016, 158 Seiten, ISBN 978 3 8321 9835 0

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