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Christoph Hein "Der fremde Freund"


Nach „Verwirrnis“ nun die Novelle „Der fremde Freund“, die 1982 in der DDR und ein Jahr später in Westdeutschland unter dem Titel „Drachenblut“ erschien und mit Übersetzungen in mehr als 20 Sprachen Christoph Hein‘s literarischen Durchbruch brachte.

 

Eine Antiheldin

Die Antiheldin dieser Geschichte ist Claudia, Ärztin, kurz vor Vollendung ihres vierzigsten Lebensjahres, geschieden und allein und in Berlin lebend.

Ihr Leben ist so kalt und so einsam, so nüchtern und so völlig Ich-bezogen.

Während des Lesens habe ich zwischen den Wörtern und Zeilen, zwischen all dem Erzählten nach Wärme und Gefühlen gesucht, nach Nähe, die ich zur Hauptfigur hätte aufbauen können – aber nein, nichts davon. Nicht, dass sie keinen Kontakt zu Kollegen hätte, nicht, dass sie keine Bekannte (und ich schreibe extra Bekannte) hätte, nicht, dass sie keinen Freund hätte (oder besser passt: Lebensabschnittsgefährten). Nein, hat sie. Aber in allem Erzählten ist eine Distanz zu ihren Mitmenschen spürbar, eine Gefühlskälte, eine Beherrschtheit im Extremen, dass Claudia schon fast autistisch wirkt.

 

 

Schlüssig zum Erreichen dieser Darstellung ist natürlich, dass die Novelle komplett aus Claudias Sicht geschrieben ist. Damit gelingt es Hein in beängstigender Weise, die Abkapselung der Ärztin darzustellen. Alles wird nur aus ihren Augen berichtet und so ist es logisch, dass man in den 175 Seiten keinen einzigen wirklichen Dialog findet. 


Gesellschaftlich bedingte Enttäuschungen in der Kindheit

Das entscheidende neunte Kapitel offenbart die Brüche in Claudias Kindheit und Jugend, die dazu beigetragen haben:

  • Die Freundschaft/Liebe zu ihrer Schulfreundin Katharina wird zerstört durch unterschiedliche Entscheidungen der DDR-Schulbehörde, obwohl die Freundinnen beide jahrelang zu den Besten ihrer Klasse gehörten: Katharina darf wegen ihres Glaubens und wegen ihrer Brüder, die nach Westdeutschland gegangen sind, nicht auf die weiterführende Schule. Claudia darf. Auch die Eltern haben sie aufgrund dessen schon vorher bearbeitet, den Kontakt zu der Freundin abzubrechen.
  • Ein weiteres Mal bricht für Claudia eine Welt zusammen, als sie erfährt, warum der Kontakt zu ihrem Onkel Gerhard, der für sie wie ein Großvater war, abgebrochen wurde. Er hatte zu Nazizeiten als Sozialdemokrat Genossen u. a. aus den eigenen Reihen denunziert und wurde deshalb nun zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Eltern zogen deshalb weg und selbst das Erbe (Claudia war von ihm als Alleinerbin eingesetzt) wurde von den Eltern ausgeschlagen.

Das Erschütternde ist, wie Claudia bar jeglicher Hoffnung auf einen Neubeginn mit den Menschen ist und mit den Menschen an sich abgeschlossen hat. "Heute könnte ich nicht einmal sagen, was das sei, ein Freund. Möglicherweise sei ich nicht mehr bereit oder fähig mich einem anderen Menschen anzuvertrauen, was doch eine Voraussetzung dieser eigentümlichen Sache Freundschaft wäre. Wahrscheinlich brauche ich keine Freunde. Ich habe Bekannte, gute Bekannte, ich sehe sie gelegentlich und freue mich dann. Eigentlich aber wären sie austauschbar, also nicht zwingend notwendig für mich..." Und dann dieses resignierte: "Ja, so ist das..." (S. 72)

 

Es läuft alles in seiner gewohnten Ordnung

Und so ist ihr Verhältnis zu ihrem aktuellen Freund Henry genauso abgeklärt. Als er sie bei einer Autofahrt nicht unabsichtlich ins Gesicht schlägt, erwartet sie nicht einmal eine Entschuldigung, ist sogar froh, dass er sich nicht entschuldigt. "Ich würde die Ohrfeige nicht vergessen, sie ihm nicht verzeihen. Aber ich wusste auch, dass ich nicht weiter darüber nachdenken würde .. ich bin kein kleines Mädchen mehr, damit muss ich mich abgefunden haben. Es läuft alles in seiner gewohnten Ordnung, alles normal. Kein Anlass für einen Schrei. Nur nicht hysterisch werden..." (S. 135) Und so lässt sie auch Henry auf Distanz und er bleibt ihr der fremde Freund, und in ihrer Welt erscheint es dann auch 'logisch', dass sie bei seinem Tod das Erinnerungsstück - einen Filzhut, den er immer getragen hat und den sie von seinem Arbeitskollegen überreicht bekommt, in den - Abfall - wirft, um ihn und damit die Erinnerung an Henry nur schnell loszuwerden. 

 

Wie traurig - dieses Leben der Ärztin Claudia, das keines ist. Und wie sprachlos es macht, wie sehr gesellschaftliche Umstände ein Leben formen können, und das ist nicht nur vor einem DDR-Hintergrund vorstellbar.


 Christoph Hein "Der fremde Freund / Drachenblut", Novelle, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002, 10. Auflage 2015, 175 Seiten, ISBN 978-3-518-39976-7

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