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Bov Bjerg "Serpentinen"


TW: Depression, Suizid

 

Wie weit reichen wir hinein in die Leben unserer Kinder? Wie geprägt sind wir vom Verhalten und Vorleben unserer Eltern und Großeltern?

  

Um was geht es? (S. 5, 6, 11 ff.) Die Serpentinen, die der 50jährige mit seinem Sohn zur heimatlichen, schwäbischen Alb hinauf nimmt, die Kehren, Wendungen, Steigungen bewältigen - ist es angemessen, wie er fährt? Verschaltet er sich? Gibt er zu früh, zu spät Gas, zu wenig, zu viel? Würgt er etwa den Motor ab? Er weiß es erst, wenn es passiert, ob es gelingt oder nicht. Zum ersten Mal. Oder besser vielleicht, weil er schon auf diesem Weg war. Aber wie frei sind wir in den Erfahrungen, die wir glauben unabhängig zu machen?


Diese Scheißwut der Scheißväter. Gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater. (S. 53)

Bov Bjerg "Serpentinen"
Bov Bjerg "Serpentinen"

Er zweifelt. Er will ein guter Vater sein, er will da sein. Er fühlt sich jedoch oft wie fremdgesteuert. Wie eingebrannt scheint ihm das, was er selbst in seiner Kindheit mit Alkohol, Gewalt, Bloß-Nicht-Auffallen erlebte und nun in seinem Denken, Leben und Handeln seinem Sohn gegenüber wiederfindet.

 

Aber mehr noch trägt er die Last seiner Vorväter mit sich, Vater, Groß- und Urgroßvater nahmen sich das Leben. Wie fette Krakenarme greift dieses Wissen um den Fakt an sich immer wieder nach ihm und hält ihn fest, schnürt ihm die Luft zum Leben ab. Jetzt ist er, der hier erzählt, tief in seiner depressiven Gedankenstruktur - dem „Schwarzen Gott“ - gefangen…


„Ich war jetzt Professor und es hatte sich nichts geändert“. (S. 113)

Bov Bjerg schickt das Vater-Sohn-Gespann auf eine Berg-und-Tal-Fahrt - in „Schlangenlinien“ (S. 9) - in die Vergangenheit, in die Auseinandersetzung mit dem Familienerbe und mit dem, was es macht mit ihnen in der Gegenwart. Die Reise ist ein stummes Flehen des Vaters an die Zukunft, den Sohn. Nichts lenkt mehr ab - nicht der Erfolg beim Studium, nicht der Aufstieg zur Professur, nicht die Flucht in die Kunst, nicht die Therapiestunden (bei DIE GROSSE BRILLE).

 

Alles ist in ihm selbst. Alles. Hinter jeder Kurve, bei jedem Anstieg ist eine Möglichkeit. Der Schalk wie der Ernst. Das Gute wie das Böse. Das, was ihn gefangen hält und das, was ihn befreit. Nur er selbst kann es schaffen, die Linie zu durchbrechen, es anders zu machen, es überwinden.

 

Möge es uns gelingen. Bov Bjerg lässt es offen.


BOV BJERG, Jahrgang 1965, ist Schriftsteller und Vorleser. Seiner erster Roman hieß Deadline, sein zweiter, Auerhaus (...meine Meinung dazu hier...), wurde verfilmt und von vielen Theatern inszeniert. Eine Geschichensammlung erschien unter dem Titel Die Modernisierung meiner Mutter.

Mit Serpentinen war Bov Bjerg auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020.


Bov Bjerg, Serpentinen, Ullstein Buchverlage GmbH, Ullstein Taschenbuch 1. Auflage März 2020, 267 Seiten, ISBN 978 3 548 06475 8

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