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Elif Shafak "Unerhörte Stimmen"


Mit meinem zweiten Shafak-Roman erkläre ich mich zum Fan der Autorin. Schon mit „Der Geruch des Paradieses“ konnte sie mich erreichen, auch mit „Unerhörte Stimmen“ überzeugt sie mich auf vielen Ebenen: 

 

Der formalen: „Das Ende“ als Startkapitel - Leila, Prostituierte in Istanbul, wurde ermordet und in einer Mülltonne entsorgt. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen, das Gehirn arbeitet indes noch - Shafak greift damit Forschungen auf, die belegen, dass das Gehirn noch bis zu zehn Minuten nach dem Tod aktiv sein kann. Diese zehn Minuten sind struktur- und kapitelgebend – minütlich leiten Gerüche und Geschmäcker Leilas Erinnerungen und führen mich zu den entscheidenden Punkten und Menschen ihres Lebens - aus der Perspektive einer Toten in einer Mülltonne. 

Elif Shafak "Unerhörte Stimmen"
Elif Shafak "Unerhörte Stimmen"

Der inhaltlichen/der Themenkombination: Die Frauen - als solche erfährt Leila, in Van in Anatolien in eine konventionelle Familie geboren, permanent Fremdbestimmung durch Religion, den Mann, durch fixe Traditionen. / Minderheiten und Randgruppen. Selbst Prostituierte zählen zu Leilas Freunden Menschen in ähnlichen Außenseiterpositionen, sei es wegen ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihres Aussehens oder ihrer Abstammung grundsätzlich. / Istanbul, die Türkei, die Welt – Shafak setzt ihre Figuren in Bezug auf Zeitgeschichte und -ereignisse (Leila lebt von 1947-1990). / Freundschaft - Leila erfährt durch ihre fünf Freunde die ihr gebührende Wertschätzung, die sie zeit ihres Lebens von ihrer Familie nie bekam.

 

Der sprachlichen/stilistischen:  Mit dem Begräbnis Leilas nehmen „die Fünf“ das Zepter, die Perspektive, mithin die Leiche ihrer Freundin wortwörtlich in die Hand. Damit zieht eine angenehm dosierte Prise Humor und auch Leichtigkeit in den Roman ein. Das mag ich! Die Figuren sind ungemein plastisch, da die Autorin wieder mit großer Dichte und Intensität und mit ungewöhnlichen, dennoch szenisch passenden Bildern erzählt.

 

Mein Fazit: Hier pumpt ein Herz in Shafaks Roman, auch wenn es zu Beginn aufhört zu schlagen. Es ist Leilas, es ist Shafaks Herz. Und es sind das Herz und die Seele der Freundschaft von Tequila Leila, Hollywood Humeyra, Sabotage Sinan, Nostalgie Nalan, Jamila, Zaynab122 und einer Liebe: D/Ali.

 

Ihr kapiert nicht? Drum: Lesen!

 

Übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger


Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin zahlreicher Romane, darunter Die vierzig Geheimnisse der Liebe (2013), Ehre (2014) und zuletzt "Das Flüstern der Feigenbäume" (2021) schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit Unerhörte Stimmen (2019) stand sie auf der Shortlist des Booker Prize. Ihre Artikel und Auftritte machten sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte, zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt in London.


Elif Shafak, Unerhörte Stimmen, Aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Kein & Aber AG, 3. Auflage, Zürich - Berlin Januar 2023, 431 Seiten, ISBN 9 783 036 961 095

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