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Wolf Haas "Verteidigung der Missionarsstellung"


Hui und ach herrje: schon wieder ein Österreicher. Zufälle gibt es, die gibt es gar nicht, aber 2021 bisher: drei aus sieben Büchern aus dem Nachbarlande! Soll das was heißen? Nein, soll nicht – bisher sind mir bei allen dreien (Herzig, Birnbacher und nun eben Haas) die Nationalitäten erst zu Beginn der Lektüren aufgefallen. Bis hierher also tatsächlich Zufall, nur das vierte quasi schon bereitliegende österreichische Büchlein unterliegt absichtlichem österreichischen Lesen und beendet damit die Zufallskette :-) 

 

Letztes Jahr, als ich Saŝa Staniŝić „Herkunft“ las, stolperte ich in einem Online-Interview mit dem Goetheinstitut über den Namen Wolf Haas, über den Staniŝić seine Magisterarbeit geschrieben hatte. In dem Interview verwies Stanisic vor allem auf die Art des Wolfschen Humors, der ihn inspirierte. Staniŝić ‘ Humor gefiel mir, logisch musste ich also auch mal einen Wolf Haas lesen…


Darum geht es...

Zur Inhaltsbeschreibung möchte ich den Hauptdarsteller Benjamin Lee Baumgartner selbst zitieren: 

 

„Als ich mich das erste Mal verliebte, war ich in England, und da ist die Rinderseuche ausgebrochen. Als ich mich das zweite Mal verliebte, war ich in China, und da ist die Vogelgrippe ausgebrochen. Und drei Jahre später war ich das erste registrierte Opfer der Schweinegrippe. Sollte ich je wieder Symptome von Verliebtheit zeigen, musst du sofort die Gesundheitspolizei verständigen, versprich mir das.“ 


Warum normal, wenn es auch anders geht.

Wolf Haas "Verteidigung der Missionarsstellung"
Wolf Haas "Verteidigung der Missionarsstellung" Foto: J. Hebig

Mit der ersten Seite des Buches fallen wir direkt in eine der beschriebenen Balz-Szenerien: Benjamin Lee, 23jährig, äußerlich Chief Bromden (bzw. dem Schauspieler Will Sampson) aus „Einer flog über das Kuckucksnest“ ähnelnd, in London am Burgerstand. Viel denkend, wenig redend, und die Burgerverkäuferin, ach wie goldig: Sie hat eine U/Ü-Verwechslungs-Schwäche!, umgarnend.

 

Bald wird klar: Haas lässt formal nicht viel beim Gewohnten…

·       Sätze gehen einzeln quer über die Seite und biegen ab. Später auch schlängelnd. Komprimierte Textpassagen bewegen sich wie ein Lift die Seiten abwärts. Textpassagen werden immer kleiner bis zur Unleserlichkeit und enden in einem einzigen riesigen Satzaufschrei 😊

·       Umgebungsbeschreibungen werden wie in einem Manuskript zur späteren Bearbeitung nur skizziert. Beispiel: [ESSEN GERÜCHE ZUGLUFT SCHMATZEN LEUTE LÄRM]

·       Noten und Notenlinien sind eingearbeitet.

·       Es finden sich chinesische Sätze oder gar ganze Seiten auf Chinesisch und noch vieles mehr.

 

Vielmehr noch als das Experimentelle in der Form mochte ich aber, wie Wolf Haas der deutschen Sprache das Strenge, den Ernst nimmt.

 

Beginnend bei der Burgerverkäuferin mit der U/Ü-Schwäche, über Wort-Gedanken-Spielereien (z. B. wenn es Unfug gibt, muss es auch Fug geben, wenn es querlesen gibt, muss es auch geradelesen geben). Über Szenen, die so gehen: Er lächelte auch. Sie lächelte auch auch. Er lächelte auch auch auch auch. Sie lächelte auch auch auch auch auch. Er lächelte auch auch auch auch auch auch.

 

Das ließe sich beliebig fortsetzen. Und das macht nicht immer einen offensichtlichen Sinn: Aber ich durchquerte dieses Buch und diese Geschichte um den immer wieder verliebten Benjamin Lee und seine damit verbundenen Verstrickungen in größere virale Katastrophen (!) mit einem fast Dauerlächeln um die Lippen.

 

Und das tut so gut in pandemischen Zeiten wie diesen! Somit: sehr, sehr empfehlenswert!

 

P. S. Dass sich zudem der Autor selbst als Freund von Benjamin Lee in die Geschichte einbringt, dass sich neben den Verliebtsein-Geschichten noch familiäre Verquickungen mit dem Vater und der Tochter des Hauptdarstellers auftun und warum der Titel? Nun, man muss ja nicht alles verraten…?! 


Wolf Haas, Verteidigung der Missionarsstellung, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 6. Auflage, München 2020, 239 Seiten, ISBN 978 3 423 21510 7

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